Bericht über die Fachtagung „Behinderung und Männlichkeit(en)“ an der Technischen Universität Dortmund am 13.04.2018

von Gudrun Kellermann

Am 13.04.2018 fand an der Technischen Universität Dortmund eine Tagung zum Thema „Behinderung und Männlichkeit(en)“ statt, organisiert von Vertr.-Prof. Dr. Monika Schröttle (Fachgebiet Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung) und Leiterin des Projektes AKTIF (Akademiker*innen mit Behinderung in die Teilhabe- und Inklusionsforschung), Felix Gödeke und Hafid Abdel Sarkissian, beide MA-Studenten und Mitarbeiter im Projekt AKTIF. Für Barrierefreiheit wurde gesorgt, es waren zwei Schriftdolmetscherinnen von Kombia GbR anwesend, die Powerpointpräsentationen lagen für sehbehinderte Menschen in gedruckter Form aus und Rollstuhlzugänglichkeit des Universitätsgebäudes sowie der Räume war gegeben. Sowohl eine Person im Organisationsteam als auch zwei der vier Referent*innen hatten eigene Behinderungserfahrungen, alle Rollstuhlfahrer*innen mit unterschiedlichen körperlichen Beeinträchtigungen, und dem Tagungsthema entsprechend waren die meisten männlich.

Dr. Monika Schröttle  Frau mit dunkeln schulterlangen Haaren und Brille, die Unterlagen unter dem einen Arm hält, spricht ins Publikum, welches auf dem Foto nicht sichtbar ist

Foto: Dr. Monika Schröttle

Das Organisationsteam Schröttle, Gödeke und Sarkissian stellte ein spannendes Tagungsprogramm mit gut ausgewählten Vortragsthemen zusammen, die Bezüge zur Intersektionalitätsforschung und zu den Disability Studies aufwiesen. Schröttle, die durch die Tagung führte, ist seit vielen Jahren in der Frauenforschung tätig und in der Behinderungsforschung u.a. durch die groß angelegte Studie „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland“ (Schröttle/Hornberg u.a. 2013) bekannt; ebenso befasste sie sich mit der sehr viel weniger beachteten Lebenssituation behinderter Männer in Deutschland (Jungnitz/Puchert u.a. 2013). 2015 rief sie das auf drei Jahre angelegte Projekt AKTIF ins Leben, in dem über 20 Akademiker*innen, davon mehr als die Hälfte behindert, in inklusiven Teams gemeinsam Forschung und Wissenschaft betreiben. Im Schnittfeld Männlichkeit und Behinderung forscht auch Gödeke, der ebenfalls als Referent der Fachtagung auftrat. Sarkissian, Student der M.A. Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund, schrieb seine Bachelorarbeit über sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in der stationären Behindertenhilfe, in welcher das Spannungsfeld zwischen Recht und Tabu im Fokus stand. Zugleich hatte er als männlicher Wissenschaftler, der einen Rollstuhl nutzt, einen persönlichen Bezug zum Thema der Tagung, in die er mit einer eloquenten und frei gehaltenen Begrüßungsrede einstimmte.

Dr. Karsten Exner  Herr mit sehr kurzen weißen Haaren und Brille sitzt an einem Tisch und spricht, vor ihm steht ein Mikrophon

Foto: Dr. Karsten Exner

Die Tagung begann mit dem Einführungsvortrag von Dr. Karsten Exner von der Universität Bielefeld zum Thema „Identitäts- und Rollenkonflikte beeinträchtigter Männer in der heutigen Zeit“. Exner schrieb 1997 über „Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung“ und zeigte in seinem Vortrag die Geschlechtslosigkeit von behinderten Menschen auf. Unter Rückgriff auf Analysen von Köbsell (2007) stellte er die gesellschaftliche Sichtweise dar, die quasi von drei Geschlechtern ausgehe: männlich, weiblich und behindert. Bei der Geburt eines Babys interessiere an erster Stelle das Geschlecht, das jedoch belanglos werde, wenn eine Beeinträchtigung festgestellt wird. Weiterhin wies er darauf hin, dass die Kategorien „weiblich“ und „behindert“ aus gesellschaftlicher Sicht sich in gewisser Weise ähnelten, z.B. durch die zugeschriebenen Merkmale „schwach“, „passiv“ und „kindlich“, während die Kategorien „männlich“ und „behindert“ einander widersprüchlich erscheinen, da mit Männlichkeit Stärke, Macht und Härte assoziiert werde. So verdeutlichte er, dass bei Kindern die pädagogisch-therapeutische Fokussierung auf die Beeinträchtigung schon in sehr jungem Alter durch Sozialisationserfahrungen manifestiert werde. Kurz thematisiert wurden auch Benachteiligungserfahrungen von Männern aufgrund weiterer sozialer Merkmale wie Homosexualität und Hautfarbe.

Hafid Abdel Sarkissian  Mann mit kurzen dunklen Haaren und Brille in Sitzposition spricht mit Gestik

Foto: Hafid Abdel Sarkissian

An den Vortrag von Exner schloss sich der Vortrag von Felix Gödeke, Student im M.A. Erziehungswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Bachelorarbeit, die er als ehemaliger BA-Student der TU Dortmund verfasste, nahm Männlichkeit und Behinderung im Kontext der deutschsprachigen Disability Studies in den Blick. Durch seine Mitarbeit im Projekt AKTIF hatte er Erfahrungen in gelebter Inklusion; er unterstützte – wie ebenso Hafid Sarkissian – als studentische Hilfskraft und als Arbeitsassistenz die zum Teil behinderten Wissenschaftlerinnen des Dortmunder Teams.

Sein Vortrag zum Thema „Männlichkeitskonstruktionen und Behinderung(en)“ weckte beim Publikum große Aufmerksamkeit, der durch eine sehr reflektierte und ausdifferenzierte theoretische Perspektive geprägt war. Gödeke erklärte selbstkritisch, dass er aus privilegierter Position als weißer männlich sozialisierter Mensch ohne Beeinträchtigung referiere, und übte Kritik an binären Kategorieneinteilungen wie männlich/weiblich bzw. nichtbehindert/behindert, auch lehnte er den Begriff „Mensch mit Behinderung“ ab und nutzte in Orientierung an Birgit Rothenberg die Bezeichnung „behinderter Mensch“. Er stellte das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Raewyn Connell vor und unterschied zwischen hegemonialer, komplizenhafter, untergeordneter und marginalisierter Männlichkeit. Gesellschaftlich werde die Position der hegemonialen Männlichkeit angestrebt, während behinderte Männer meist in der marginalisierten Männlichkeit verblieben. Schwieriger sei die Einordnung von schwulen (nichtbehinderten) Männern – gehörten sie früher eher zur „untergeordneten Männlichkeit“, ließen sie sich dort heute nicht mehr ohne Weiteres einordnen, da sie im Vergleich zur Vergangenheit an Akzeptanz gewonnen hätten, wenngleich sie nach wie vor Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt sind.

Dr. Petra Anders  Frau mit längeren mittelbraunen Haaren und Brille sitzt an einem Tisch, sie spricht mit Blick zum Publikum, das auf dem Foto nicht sichtbar ist

Foto: Dr. Petra Anders

Dr. Petra Anders, Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt AKTIF der TU Dortmund, zeigte anhand ihres vielschichtigen Vortrags zum Thema „Michael Akers' Drama Morgan – Männlichkeit(en) & Behinderung im Film“ verschiedene Männlichkeitskonzepte im Kontext von Behinderung auf und nannte dabei mehrere gelungene und weniger gelungene Filmbeispiele wie „Ich bin die Andere“ (2006), „Wo ist Fred?“ (2006), „Inside I’m Dancing“ (2004), „Phantomschmerz“ (2009), „Hasta la vista“ (2012), ferner noch „Yossi“ (2012) und „Tiefe Wasser“ (2014), die das Thema Homosexualität aufgriffen. Anschließend ging sie ausführlicher auf den Film „Morgan“ (2016) ein, den sie als Positivbeispiel für die Darstellung von Behinderung und Homosexualität einbrachte. In Morgan geht es um einen jungen Mann, der früher Extrem-Radsportler war, seit einem Sportunfall querschnittgelähmt ist, und sich in Dean verliebt. Durchtrainiert vom früheren Radsport entspricht sein Körper trotz der Beeinträchtigung noch dem sog. „Schönheitsideal“, dennoch fühlt Morgan sich durch seinen Körper schwer entwertet. Nur mühsam gelingt es Dean, Morgans negatives Selbstbild zu zerstören und ihn als Geliebten für sich zu gewinnen. Obwohl der Schauspieler Leo Minaya, der die Rolle von Morgan verkörpert, nichtbehindert ist und der Regisseur Michael D. Akers ebenfalls keine Behinderungserfahrungen hat, gelang es diesem durch intensivere Recherchen, mit Morgan ein vielschichtiges Bild eines Mannes zu zeichnen, der behindert ist und durch Dean (gespielt von Jack Kesy) zu seiner Homosexualität findet.

Felix Gödeke  Mann mit etwas längeren gewellten Haaren sitzt an einem Tisch und spricht, vor ihm ist in Nahaufnahme der Bildschirm eines Laptops von den Schriftdolmetscherinnen zu sehen, auf dem der Text, der gerade gesprochen wurde, zu lesen ist

Foto: Felix Gödeke

Mit dem letzten Vortrag der Tagung über „Selbstbehauptung für Jungen und Männer mit kognitiven Beeinträchtigungen“ wies der Referent Manuel Will auf ein notwendiges, aber in der Gesellschaft kaum diskutiertes Thema hin. Selbstbehauptung und Selbstverteidigung sind bislang eine Frauendomäne, da Frauen häufiger von Gewalt betroffen sind als Männer. Will ist seit etwa zehn Jahren in der AG Freizeit e.V. in Marburg aktiv und arbeitet als Freizeitpädagoge und Selbstbehauptungstrainer für Jungen und Männer mit Lernschwierigkeiten. In seinem Vortrag grenzte er Selbstbehauptung, bei der es um die Entwicklung eines starken Selbstwertgefühls und einer inneren Stabilität geht, von der Selbstverteidigung ab. In den Kursen zur Selbstbehauptung, die entweder als Kompakt- oder Wochenendkurse stattfinden, lernen die Teilnehmer etwa, „nein“ zu sagen und Distanz einzufordern, wenn sie diese wünschen. Die Gruppengröße bewegt sich dabei meist zwischen zehn und 15 Personen. Der Text einer Folie aus dem Vortrag verdeutlicht die Ziele der Kurse: „Ich bin wichtig. Meine Gefühle sagen mir, was richtig ist. Ich sage JA, wenn ich etwas möchte. Ich sage NEIN, wenn ich etwas nicht möchte. Ich mache meine Grenzen deutlich: STOPP, bis hierhin und nicht weiter! Wenn ich allein nicht weiter komme, hole ich HILFE. ALL das darf ich – es ist mein RECHT!“ Zwei kurze Videoausschnitte aus der Praxis rundeten den Vortrag ab. In den Selbstbehauptungskursen sind ausschließlich Jungen und Männer vertreten, auch die Trainer sind grundsätzlich männlich.

Manuel Will  Herr mit kurzen dunklen, leicht stoppeligen Haaren und sehr kurzem Bart sitzt an einem Tisch vor einem Laptop und spricht ins Publikum

Foto: Manuel Will

An dieser Stelle kam eine Frage aus dem Publikum, warum die Kurse nicht gemeinsam mit Frauen veranstaltet würden. Bei dieser Frage wurde mir bewusst, dass in vielen Settings eine Trennung zwischen behinderten Männern und behinderten Frauen keine Selbstverständlichkeit ist wie bei nichtbehinderten Männern und Frauen, u.a. auch bestätigt durch die eingangs erwähnte Studie von Schröttle; so bieten manche Einrichtungen ihren Bewohner*innen keine Privatsphäre, weil die Räume und die Nasszellen sich nicht verriegeln lassen. Dabei machen geschlechtsspezifische Settings gerade bei Themen wie Gewalt, Grenzüberschreitungen und Sexualität Sinn.

Die Tagung schloss mit einer lebhaften Podiumsdiskussion zwischen den referierenden Personen und dem Publikum ab, eingeleitet mit einem Input von Schröttle, die ihre Erfahrungen aus der Forschung mit behinderten Frauen und Männern einbrachte und dabei insbesondere auf den Aspekt Gewalt einging. Die Beiträge der Referent*innen und auch aus dem Publikum verdeutlichten, dass behinderte Menschen mehr sind als „behindert“ und dass Behinderung neu gedacht werden müsse. Immer wieder schwang während der Tagung eine leise Kritik an der Konzentration auf behinderte Männer mit, auch in der Diskussion wurde dies thematisiert. Aber dass die Tagung den Fokus auf männliche Personen richtete, sollte andere Geschlechtskategorien keineswegs abwerten, sondern vielmehr verdeutlichen, dass in der Männerforschung im Kontext von Behinderung noch ein hoher Diskussions- und Handlungsbedarf besteht.

Sehr rege diskutiert wurde über Kategorien – dürfen Menschen in Kategorien wie weiblich/männlich/trans* oder behindert/nichtbehindert oder heterosexuell/homosexuell oder weiß/schwarz gedacht werden? Sind Kategorien etwas Negatives? Mehrere Teilnehmer*innen der Diskussion meinten, dass sie sinnvoll seien. Eine Auffassung aus dem Publikum war, dass Kategorien gerade Kindern Orientierungen bieten würden. Aber sind nicht Erwachsene wesentlich stärker abhängig von Zuordnungen in Kategorien, weil sie ihnen gewissermaßen Sicherheit geben? Kinder scheinen diesbezüglich viel flexibler zu sein. Großer Konsens im Publikum bestand darin, dass Kategorien zum Problem werden, sobald Bewertungen stattfinden, z.B. „behindert = schlecht“. Erwähnt wurde auch der Aspekt, dass ein Mensch verschiedene Kategorien in sich vereinen kann, des Weiteren wollen manche Menschen sich nicht auf bestimmte Kategorien festlegen lassen und andere möchten frei zwischen den Kategorien wechseln dürfen. Letztendlich entscheiden nicht Kategorien über den Wert eines Menschen, sondern entscheidend ist, dass Vielfalt in der Gesellschaft zugelassen wird. Es fiel fast schwer, die Diskussion zu beenden, aber Punkt 16 Uhr war Schluss, wie das Tagungsprogramm versprach. Die Tagung war rundherum gelungen, weitere Veranstaltungen zu diesem Thema und vielleicht noch allgemeiner im Kontext von „Behinderung und Geschlecht“, in dem auch behinderte trans* und inter* Menschen in den Blick genommen werden, wären sehr wünschenswert.

 

Copyright Fotos: Gudrun Kellermann

 

Literatur

 

  • Exner, K.: Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung. In: Warzecha, Birgit: Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik: Forschung – Praxis – Perspektiven. Hamburg: Lit Verlag 1997, S. 67-87. Online: http://bidok.uibk.ac.at/library/exner-deformiert.html [20.04.2018]
  • Jungnitz, L.; Puchert, R.; Schrimpf, N.; Schröttle, M.; Mecke, D.; Hornberg, C. (2013): Lebenssituation und Belastung von Männern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Studie im Auftrag des BMAS
  • Köbsell, S.: Behinderung und Geschlecht: Versuch einer vorläufigen Bilanz aus Sicht der deutschen Behindertenbewegung. In: Jacob. J.; Wollrad, E.: Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis, Dokumentation einer Tagung. Oldenburg: BIS-Verl. der Carl-von-Ossietzky-Universität 2007, S. 31-49
  • Schröttle, M.; Hornberg, C. et al. (2012/2013): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland. Eine repräsentative Studie. Forschungsprojekt des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin (Veröffentlichung der Kurzfassung der Studie 2012; Langfassung 2013. Kurzfassung online: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/publikationen,did=186150.html [20.04.2018]; Langfassung online: https://www.bmfsfj.de/blob/94206/1d3b0c4c545bfb04e28c1378141db65a/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-behinderungen-langfassung-ergebnisse-der-quantitativen-befragung-data.pdf [20.04.2018])

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