Herausforderungen und Chancen für eine wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Hörbehinderung

Gudrun Kellermann

Ein Erfahrungsbericht von Gudrun Kellermann

Meine Hörbehinderung

Seit meiner Geburt bin ich gehörlos, allerdings wurde ich relativ frühzeitig mit Hörgeräten versorgt und im Elternhaus sehr intensiv lautsprachlich gefördert, so dass ich von vielen als „schwerhörig“ wahrgenommen werde. Schon im Alter von vier Jahren lernte ich spielerisch die ersten Buchstaben kennen und gewann große Freude am Lesen, was die Sprachentwicklung sehr unterstützte. Ich eignete mir erst im Erwachsenenalter einen kleinen Wortschatz in der Gebärdensprache an, den ich kontinuierlich erweitern möchte. Aber Lautsprache bleibt meine Muttersprache.

Mit über 30 Jahren entschied ich mich für ein Cochlea-Implantat (CI) auf dem einen Ohr, auf dem anderen trage ich weiterhin ein Hörgerät. Obwohl das CI für mich persönlich ein sehr großer Gewinn ist, bin ich bei der Kommunikation weiterhin auf das Lippenlesen und langsames, deutliches Sprechen angewiesen. Daher bezeichne ich mich nicht als schwerhörig, sondern als (audiologisch) gehörlos oder hörbehindert. Ohne Hörhilfen bin ich vollständig taub, mit CI und Hörgerät ist mein Hören fragmentarisch und verzerrt, dennoch ist es beim Lippenlesen eine große Stütze.

Da ich nicht telefonieren kann, muss fernmündliche Kommunikation schriftlich (E-Mail, Brief, notfalls SMS) oder über eine Assistenz erfolgen, und bei Dienstgesprächen mit mir sind gewisse Regeln einzuhalten – für viele potentielle Arbeitgeber*innen Hürden, die in ihren Augen unüberwindbar erscheinen. Zum Glück gilt das nicht für AKTIF.

Meine Vorgesetzte Vertr.-Prof. Dr. Monika Schröttle, die die Gesamtkoordination des Projektes AKTIF innehat, und meine Teamkolleg*innen sind bereit und sehr geduldig, sich bei der Kommunikation auf mich einzustellen, und wir führten mehrere Experimente durch, wie wir Dienstgespräche effizient gestalten können, ohne dass es zur Belastung für alle wird. Das galt auch für das Team von Jun.-Prof. Dr. Ingo Bosse, in dem ich im Rahmen von AKTIF mehrere Monate lang mitarbeitete.

 

Entwicklung effizienter Kommunikationsstrategien und Einsatz von Hörtechnik

Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, lernen durch regelmäßige persönliche Treffen mit mir, wie sie mit mir sprechen müssen. Es gibt Menschen, die „von Natur aus“ mit deutlichem Mundbild und klarer Stimme sprechen, und andere, bei denen das nicht der Fall ist. Zweiteres verlangt manchmal viel Geduld auf beiden Seiten ab, aber diese Geduld bringen glücklicherweise alle bei AKTIF mit. Sehr toll ist, dass meine Kolleg*innen teilweise eigene Strategien erwarben, z.B. das Fingeralphabet anwenden, einzelne Gebärden lernen, das Gesprochene auf einer Tastatur schreiben.

Bei Dienstgesprächen mit bis zu vier Personen setze ich zusätzlich ein Mikrophon – auch FM-Anlage oder Mikroport-Anlage genannt – ein, das über Funk mit meinem Hörgerät in Verbindung steht und für einen prägnanten Klang sorgt. Das Mikrophon besitze ich schon seit etwa zehn Jahren (Kosten ca. 2000 €). Irgendwann möchte ich mir ein neues Mikrophonsystem anschaffen, da die Hörtechnologien sich rasant weiterentwickeln.

 

Weitere technische Ausstattung für die Kommunikation

Erleichtert wird die Kommunikation durch den Einsatz einer Funktastatur, die ich mir privat angeschafft habe. Darauf tippen meine Kolleg*innen oder unsere studentische Hilfskraft bei Teamsitzungen, wenn ich einzelne Sätze oder Begriffe nicht verstanden habe. Die Tastatur steht über Funk in Verbindung mit dem Laptop, auf dem ich mitlese und der aus Mitteln für das AKTIF-Projekt finanziert wurde. Für den mobilen Einsatz, z.B. für Dienstgespräche im Zug, erhielt ich außerdem ein Tablet, das gemeinsam mit der Funktastatur die Kommunikation sehr erleichtert.

Im großen AKTIF-Team hat sich jetzt eine Handvoll von Leuten zusammengefunden, die sogar informelle Gespräche z.B. im Restaurant für mich mitschreiben, wenn auch nur in Stichpunkten, da das kontinuierliche Mitschreiben sehr anstrengend ist. Aber bei informellen Gesprächen überhaupt einen roten Faden zu haben, ist sehr viel wert und vermittelt mir das Gefühl, als Kollegin wertgeschätzt zu werden.

 

Das Antragsverfahren um Arbeitsassistenz bzw. Schriftdolmetscher*innen

Viel effektiver und flotter laufen Dienstgespräche jedoch ab, wenn ich professionelle Schriftdolmetscher*innen einsetzen kann. Ich setze bei Dienstgesprächen mit vier und mehr Personen nach Möglichkeit Schriftdolmetscher*innen ein, die das gesprochene Wort auf einem Laptop sichtbar machen, in manchen Fällen auch auf einer Leinwand. Bei großen Veranstaltungen nutze ich ausschließlich professionelle Schriftdolmetschung.

Als Mensch mit einem Schwerbehindertenausweis und mit einer sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstelle habe ich Anspruch auf Arbeitsassistenz, die ich beim Integrationsamt beantragte.

Ich wandte mich nach der Zusage für die Stelle bei AKTIF an das Integrationsamt in Nordrhein-Westfalen und schickte ein formloses Antragsschreiben. In diesem stellte ich meinen Bedarf auf Assistenz dar – dieses wurde später vom Integrationsfachdienst (nicht zu verwechseln mit dem Integrationsamt) als zielführend für die Bearbeitung des Antrags gelobt.

Die Zusammenarbeit mit dem Integrationsfachdienst und dem Integrationsamt erwies sich als sehr angenehm und effizient. Es musste zunächst geklärt werden, wer der zuständige Kostenträger war. Da ich vor Stellenantritt arbeitslos war und noch in Hamburg wohnte, bat das Integrationsamt in NRW mich darum, den formlosen Antrag an die Hamburger Arbeitsagentur zu schicken. Daraufhin begannen etwa dreimonatige Verhandlungen zwischen verschiedenen Behörden über die Kostenübernahme für meine Arbeitsassistenz: die Arbeitsagentur in Hamburg, die Arbeitsagentur in Bayern, das Integrationsamt in NRW, das Integrationsamt in Bayern und das Integrationsamt in Hamburg.

Die Frage der Kostenübernahme für Arbeitsassistenz kann sehr kompliziert werden, wenn frau zwei Wohnsitze und Arbeitsstellen in verschiedenen Bundesländern hatte (Hamburg und Bayern), dann arbeitslos wurde und schließlich für ein drittes Bundesland (NRW) arbeitet, aber dort noch nicht wohnt.

Glücklicherweise wurde der Papierkrieg vorwiegend zwischen den Behörden geführt, so dass ich selbst kaum aktiv werden musste. Ich musste nur immer wieder Auskunft zu verschiedenen Fragen erteilen.

Zu meiner großen Erleichterung bekam ich schon einen Monat nach Arbeitsbeginn vom Integrationsamt NRW eine offizielle schriftliche Zusage für den Einsatz von Schriftdolmetscher*innen, auch wenn über den Kostenträger noch nicht endgültig entschieden war. An einem früheren Arbeitsplatz musste ich fünf Monate darauf warten und auch die Verhandlungen mit den Behörden selbst führen.

Als die Frage des Kostenträgers endlich geklärt war, erhielt ich einen großen Packen an Formularen, die ich auszufüllen hatte, um Art und Umfang der Arbeitsassistenz zu bestimmen. Hierfür musste ich diverse Dokumente und Adressen zusammentragen. Kein Wunder, dass viele hörbehinderte Menschen vor der Bürokratie zurückschrecken und sich lieber ohne Arbeitsassistenz durchwuseln.

Zusätzlich führte ich mit dem Integrationsfachdienst (IFD) in NRW, der mit dem Integrationsamt zusammenarbeitete, ein persönliches Gespräch, ebenso war meine Chefin bereit zu einem einstündigen Telefonat und einem einstündigen Besprechungstermin mit dem IFD, bei dem ich auch anwesend war, so dass ich ein gutes Budget für Arbeitsassistenz erhielt.

Dennoch – das muss ich hier betonen – ist mein Bedarf an Arbeitsassistenz eigentlich viel höher, und ich muss Kompromisse eingehen, die von meinem Arbeitsteam mitgetragen werden. Es ist ein ständiger Balanceakt, was ich meinem Team zumuten darf und wo ich meine Grenzen sehe. Wir tauschen uns regelmäßig darüber aus und ich kann sagen, dass wir für uns einen sehr guten Weg gefunden haben. Aber leider kann ich zahlreiche externe Veranstaltungen nicht besuchen, weil dies mein Budget sprengen würde.

 

Grundlegende Informationen zur Beantragung von Arbeitsassistenz und technischen Arbeitsgeräten

Grundsätzlich ist zwischen der „selbstorganisierten Arbeitsassistenz“ und der „arbeitgeberorientierten Arbeitsassistenz“ zu unterscheiden. Bei der ersten Variante beantragt und organisiert die Person, die auf Assistenz angewiesen ist, diese selbst. Für diese Variante habe ich mich entschieden. Es hätte ebenso die Möglichkeit bestanden, dass meine Vorgesetzte für mich die Assistenz beantragt, dann diese jedoch auch immer für mich organisiert und die Buchführung selbst übernimmt. Das wäre die zweite Variante gewesen.

Ich habe mich für die erste Variante entschieden, weil ich zum einen die laufende Bürokratie keiner außenstehenden Person zumuten wollte und ich zum anderen die Verantwortung selbst tragen wollte, d.h. ich wollte frei bestimmen, wen ich wann für welche Aufgaben (nach Absprache mit dem Integrationsamt) einsetze. Ich bin damit quasi Arbeitgeberin meiner Assistenz, nur die Abrechnung erfolgt über das Integrationsamt, das mir ein Budget zur Verfügung stellt.

Ich hätte auch technische Arbeitsgeräte wie die FM-Anlage, den Laptop, das Tischmikrophon, das Tablet und die Funktastatur – alles Dinge, die für mich bei der Kommunikation wichtig sind – beim Integrationsamt beantragen können, aber ein Teil wurde aus Projektmitteln finanziert und ein anderer Teil wurde von früheren Kostenträgern sowie privat übernommen.

Leider lesen sich Ratgeber für Arbeitsassistenz und technische Arbeitshilfen sehr bürokratisch und eher abschreckend, so dass meine Empfehlung ist, grundsätzlich zuerst einen formlosen schriftlichen Antrag an das Integrationsamt oder den Integrationsfachdienst vom Bundesland, wo die Arbeitsstelle angesiedelt ist, zu schicken. In der Regel kommt dann die erste konkrete Anweisung, auf die noch viele weitere Anweisungen folgen werden. Hier kann mein leicht gekürzter und anonymisierter Antrag eingesehen werden. Sollte nach dem Versand eines Briefs an eine Behörde nach einer gewissen Zeit keine Antwort kommen, ist es sinnvoll, nachzuhaken. Anlaufstellen und Informationen finden sich auf der Webseite BIH (Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen) - https://www.integrationsaemter.de/.

 

Der Einsatz von Schriftdolmetscher*innen

Mein Antrag auf Arbeitsassistenz war erfolgreich, aber damit endete die Bürokratie keineswegs, denn für jeden Diensttermin muss ich Schriftdolmetscher*innen organisieren, ihnen Informationen über Termin und Ort liefern, Namens- und Wortlisten erstellen und Dokumente zur Vorbereitung schicken. Kaum jemand hat eine Vorstellung, wie viele Namen, projekteigene Abkürzungen (z.B. AKTIF, BRK für Behindertenrechtskonvention, BMAS für Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Fachbegriffe und Fremdwörter bei solchen Treffen auftauchen können. Dass AKTIF jetzt eine Internetpräsenz hat, kommt mir daher sehr gelegen. Auch führe ich Buch über die Assistenzeinsätze, um mein verfügbares Budget immer im Auge zu haben.

Bei unseren Sitzungen im achtköpfigen Team (zu dem auch zwei studentische Hilfskräfte gehören) lasse ich mir die Dolmetscher*innen über das Internet zuschalten, hierfür wurde aus Projektmitteln ein Tischmikrophon (ca. 120 €) angeschafft. Ein besonderer Stressfaktor sind instabile Internetverbindungen, daher bevorzuge ich LAN gegenüber WLAN. Da die Schriftdolmetscher*innen uns nicht sehen können, gilt strenge Sprechdisziplin. Viel lieber setze ich Schriftdolmetscher*innen vor Ort ein, weil die Dolmetschleistung besser ist. Aber Online- und Präsenzdolmetschung haben unterschiedliche Vor- und Nachteile, daher schätze ich es, je nach Einsatztermin frei zwischen beidem wählen zu können.

Ich habe viele verschiedene Schriftdolmetscher*innen, denn sie sind nicht beliebig verfügbar. Sie dolmetschen auch für andere Auftraggeber*innen, gehen oft einer weiteren beruflichen Tätigkeit nach und haben sonstige Verpflichtungen.

Im Rahmen von AKTIF finden Dienstveranstaltungen nicht nur in Dortmund, sondern an verschiedenen Orten in Deutschland statt, so dass ich immer Dolmetscher*innen organisiere, die möglichst in der Nähe des Einsatzortes wohnen. Von den Kostenträgern aus ist gefordert, dass sie zertifiziert sind, auch müssen sie bei Einsätzen von mehr als einer Stunde zu zweit sein.

 

Der Umzug von Hamburg nach Dortmund

Für mich persönlich waren die ersten Monate nach Stellenantritt alles andere als einfach, denn ich wohnte noch in Hamburg, fuhr die ersten zwei Monate lang fast wöchentlich ins 350 km entfernte Dortmund, um einerseits an meinem Arbeitsplatz präsent zu sein und andererseits Wohnungen zu besichtigen. Zweiteres war für mich – die zusätzlich eine leichte Körperbehinderung hat – sehr strapaziös. Schließlich musste die Wohnung für mich in einzelnen Aspekten auch einigermaßen barrierefrei sein. Ich war sehr froh, als ich nach zwei Monaten endlich eine Wohnung mit fast allen Wunschkriterien fand. So viele potentielle Vermieter*innen reagierten auf meine Mails nicht, sie wollten meist lieber eine Stimme am Telefon hören oder mich sehen. Erst ein persönlicher Besuch bei der genossenschaftlichen DOGEWO verschaffte mir eine Wohnung.

Das alles zusammen – die Wohnungssuche, die Pendelei zwischen Hamburg und Dortmund, die wöchentliche Organisation einer Unterkunft, die Schlepperei von Gepäck in einer (nach meinem Empfinden) treppenreichen Stadt, der Umzug in eine neue Stadt und der Papierkram für die Arbeitsassistenz brachten mich in den ersten Monaten oft an meine körperlichen Grenzen, so dass ich mit meiner Arbeitsleistung zu Beginn öfter unzufrieden war. Ich hatte das Glück, auf Verständnis im Arbeitsteam zu stoßen, ich konnte den Rückstand aufholen und kann mich jetzt ganz auf die Arbeit konzentrieren.

 

Abschließende Bemerkungen

Für eine Arbeitsstelle umzuziehen und Assistenz und/oder technische Arbeitshilfen zu beantragen, ist für behinderte und chronisch kranke Menschen mit Herausforderungen verbunden.

Schwierig bleibt für mich die Teilnahme an externen Veranstaltungen, denn mein Budget für Arbeitsassistenz ist hierfür äußerst begrenzt. Enttäuschend finde ich, dass zahlreiche Veranstaltungen ausgerechnet zu den Themen Teilhabeforschung, Barrierefreiheit und Inklusion nicht wirklich barrierefrei sind. Gebärdensprachdolmetscher*innen und Induktionsanlagen sind sehr wichtig, aber sie sind kein Ersatz für Schriftdolmetscher*innen. Auch blinde bzw. sehbehinderte Menschen sind eine oft vergessene Gruppe, ganz zu schweigen von Menschen mit Lernschwierigkeiten. So bleibt vielen behinderten Menschen die Möglichkeit der Netzwerkbildung und der Erweiterung von Kenntnissen verschlossen.

Trotz diverser Barrieren, die sich mir am Arbeitsplatz weiterhin stellen, wird Inklusion im gesamten AKTIF-Team groß geschrieben und ich nehme ein starkes Bewusstsein für Barrieren und Barrierefreiheit wahr. Wir entwickeln ständig kreative Lösungen für den Umgang mit Barrieren, wo behördliche und andere Zwänge sich in den Weg stellen.

Als sehr große Bereicherung nehme ich es wahr, mit sehr unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Fachdisziplinen zusammenzuarbeiten, dabei meine eigenen Kompetenzen zu erweitern und über den von der eigenen Fachdisziplin geprägten Tellerrand hinauszublicken.

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